Kommentar und Hintergrund in DNEWS24

Die neue Wehrpflicht: eine kritische Sicht der Dinge. Von Sascha Rauschenberger

Boris Pistorius und die CDU wollen die allgemeine Wehrpflicht wieder in Kraft setzen. Hilft das der Ukraine und wie kann das überhaupt funktionieren?

Dulce et decorum est pro patria mori: „Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“ Ist das so?

Die Wehrpflicht fiel nach der Wiedervereinigung der sogenannten „Friedensdividende“ zum Opfer. Genauso wie fast alles, was einmal zur Verteidigungsfähigkeit Deutschlands beigetragen hatte und Geld kostete. Man glaubte, wie nach so vielen anderen Konflikten, dass der ewige Friede angebrochen war und Armee und Verteidigung in Größe, Wirkung und Verpflichtung dem NATO-Bündnis gegenüber stark beschränkt werden könnten. Trotz der absehbaren demographischen Entwicklung glaubte die Regierung Merkel, den personellen Bedarf der Streitkräfte ausschließlich durch Freiwilligkeit decken zu können. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine und der „Zeitenwende“ ist spätestens klar, dass das eine Illusion ist. Der reale Personalbedarf für eine verteidigungsbereite Armee liegt weit über der aktuellen Fähigkeit der Bundeswehr, diese aus Freiwilligen zu gewinnen. Wer genau hingeschaut hat, hat aber schon vor Jahren festgestellt, dass es der Bundeswehr seit dem Ende der Wehrpflicht nie gelungen ist, den Personal-Bedarf zu decken. Dazu steigt seit dem Ukrainekrieg auch noch die Wehrdienstverweigerungsquote – auch unter den aktiven Soldaten – sprunghaft an. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, freute sich unlängst bei einem Vortrag in Koblenz, dass die Bundeswehr mit 32,8% von sog. „Abbrechern“ in den ersten sechs Monaten beim Bund noch recht gut dastehe…

Unter dem Strich betrachtet: so wird das nichts mit der Zeitenwende!

Neben den diversen nun betrachteten Modellen, von selektiver oder allgemeiner Wehrpflicht bzw. einer allgemeinen Sozialpflicht für Männer und Frauen, gibt es ein paar Aspekte, die genauer beleuchtet werden sollten. In einer Demokratie war es stets einfach eine akzeptierte Pflicht abzuschaffen, aber recht schwer, ungeliebte Pflichten wieder einzuführen. Besonders, wenn eine Generation dazwischenliegt. Das allein macht schon das Problem klar.

Ein paar Fakten: Wer soll eingezogen werden?

Allein bei dieser Frage wird es interessant. Im Rahmen der Gleichberechtigung sind dann sowohl Männer als auch Frauen betroffen. Alles andere wäre nur sehr schwer rechtlich durchsetzbar und würde vor den höchsten Gerichten wahrscheinlich scheitern. Dennoch sollten Extremisten nicht auch noch eine kostenlose und umfassende Ausbildung an der Waffe erfahren, was sich logisch anhört, aber auch schon Probleme aufwirft. Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft wäre auch zu bedenken. Viele sehen hier die deutsche Staatsbürgerschaft als add-on, als nette Zugabe, nicht aber als Verpflichtung. Der daraus resultierende Sonderstatus steht dieser allgemeinen Wehr- oder Sozialpflicht entgegen. Und ist dann möglicherweise auch anfechtbar.

Das Bundesverteidigungsministerium versucht sich gerade in einer neuen Art der Freiwilligkeit. Man will, dass sich alle im achtzehnten Lebensjahr befindlichen Menschen online testen lassen, ob sie für den Wehrdienst in Frage kommen. Die am besten Geeigneten, will man dann einziehen, während der Rest dann… diese Ehre nicht hat. Man darf sicher annehmen, dass auch das scheitern wird. Vergütung? Als ich anno 1987 zum Wehrdienst einberufen wurde, gab es für den Grundwehrdienst von 15 Monaten 7,50 DM am Tag (3,75 Euro) und ab dem sechsten Dienstmonat mit mehr als 56 Stunden Dienst in der Woche 60 Pfennig mehr am Tag. Das war auch damals schon ein besserer Hungerlohn. Zumal auch ohne Dienstausgleich für Feier- und Wochenenddienste.

Wehrerfassung, Musterung und Reserve

Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wurde auch alles abgeschafft und abgegeben, was zur Erfassung der Wehrpflichtigen benötigt wurde. Angefangen von Melderegisterabgleichen bis hin zur Datenerfassung. Und das nicht nur physikalisch sondern auch rechtlich. Die Bundeswehr hat keinen Zugriff mehr auf Melderegister! Bei diesem Unterfangen wurden dann auch die Kreiswehrersatzämter abgeschafft und die dazugehörigen Liegenschaften zum großen Teil abgegeben. Genau wie eine Vielzahl von Standorten. Bei der Auslagerung der Daten, Akten und sonstigen Personalunterlagen, gingen auch 50% aller Reservistendaten verloren… Dass diese Reserve nun wieder gefragt ist, kommt nicht von ungefähr, denn die Bundeswehr überaltert in der Reserve. Man glaubte mit den Überhängen der alten Bundeswehr gut über die Runden zu kommen. Diese Runden sind nun beendet, zumal sich die Reserve immer aus den ehemals aktiven Soldaten zusammensetzte. Doch diese wurden weniger, so dass auch die Auffrischung der Reserve eine nun neue Aufgabe ist. Landesschutzregimenter sind hier die Lösung, wo auch Ungediente unterkommen könn(t)en. Der reale Kampfwert dieser Einheiten ist aber sicher… übersichtlich.

Die Kostenfrage…

Wehrpflichtige müssen ausgebildet werden. Das muss irgendwer irgendwo mit irgendwas machen. Und das nicht nebenbei, sondern in aller Regel vorrangig. Kasernen, Schießbahnen und Übungsplätze hat man an die dankbaren Kommunen abgegeben, die mit der Verwertung der Liegenschaften ihre Kassen auffüllen konnten. Nun sind sie aber weg und die Möglichkeiten der Bundeswehr an neue Liegenschaften zu kommen, ist begrenzt. Wer ausbilden will, braucht dazu zusätzliches und geeignetes Personal, das sich anfangs aus der Struktur rekrutiert. Ergo wird dieses Personal zunächst aber über Jahre zusätzlich belastet werden. Dann kommt die Frage auf, was denn für Truppenverbände aufgestellt werden sollen. Kampftruppe wäre schön. Nur braucht eine funktionsfähige Kampftruppe recht kostenintensive Waffensysteme, deren Wartung, Instandhaltung und ständige Modernisierung wieder Geld kostet.

Und dann die wichtigste Frage: WAS soll die Wehrpflicht denn leisten? Rein fachlich und sachlich betrachtet, sind Wehrpflichtige im besten Falle willige Amateure und im schlimmsten Fall unwilliges Kanonenfutter. Beides sieht man gerade am Kriegsgeschehen in der Ukraine. Die Freiwilligen sind weg und die Zwangsrekrutierten laufen in Scharen über oder sterben einfach. Auf beiden Seiten.

Dazu stellt sich die Frage, was der moderne Krieg, der sich auf dem Gefechtsfeld mit LIVE-Aufklärung, Drohnengefahr und just-in-time-Operationen darstellt, mit Halb-Amateuren will? Der Faktor Mensch wird militärisch auf dem Gefechtsfeld gerade auf das reduziert, was reine Biomasse ausmacht. Die Technik reduziert die Überlebenswahrscheinlichkeit auch in befestigten Stellungen auf Werte, die selbst im Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs unerreicht blieben. Clustermunition, Gleitbomben, thermobare Gefechtsköpfe und Killerdrohnen machen selbst betonierte Unterstände zu Todesfallen. Wie will man Wehrpflichtigen und Reservisten, die in aller Regel gut informiert sind, diese Art Dienst schmackhaft machen? Welche Anreizsysteme wiegen das eigene Leben auf? – Ehre, Tradition, Heimat, Vaterland???

Fazit

Ich stellte anfangs den Satz: „Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“ – Doch wird das so noch wahrgenommen? Gibt es IM WESTEN wirklich NICHT NEUES, wie es wohl Remarque fragen würde? Wäre es nicht an der Zeit – auch im Schatten der Demographie – das aktuelle Menschenbild in die Planungen mit einzubeziehen?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei einem möglichen Kriegsausbruch begeisterte Menschenmassen jubelnd in den Krieg ziehen. Wie 1870 oder 1914. Wir können wohl sicher sein, dass diese Epochen vorbei sind. Es wäre Zeit, unsere Soldaten insgesamt vor dem zu schützen, was mangelnde Weitsicht und miese Planung verursachen. Müssen wir urbanen Kampf mit Menschen führen? Müssen wir Hecken und Baumreihen entlang von offenen Flächen mit Menschen und Gewehren verteidigen? Müssen wir Menschen mit Panzern ins Gefecht fahren, deren Überlebenswahrscheinlichkeit sich gen Null bewegt, aber Menschenleben und Millionen kosten? Müssen wir teure Waffensysteme bei Heer, Luftwaffe und Marine vorhalten, die mit billigen Kleinkampfmitteln so angreifbar sind, dass ihr Nutzen sehr reduziert ist? Müssen wir uns an der Front auf das Reaktionsvermögen von Menschen verlassen, deren Körperwärme sie allein schon zum Ziel macht? Müssen wir tolerieren, dass Truppen Wasser aus Pfützen trinken, weil Versorgungsgüter nicht mehr zu ihnen durchkommen, oder es kaum noch Kameraden gibt, die das Risiko zur vordersten Front zu fahren, auf sich nehmen wollen, um Wasser und Verpflegung zu bringen? Der Ukrainekrieg hat gezeigt, dass hier vieles auf den Prüfstand gehört. Auch und besonders die, die bisher die Entscheidungen fällten und für Planungen verantwortlich waren.

Die Wehrpflicht ist integraler Bestandteil einer jeden freien Gesellschaft. Wehrdienst zu leisten ist ein Bürgerrecht, das historisch nicht vom Himmel fiel, sondern durch freie Menschen erkämpft wurde. So merkwürdig es auch klingen mag… Die Wehrpflicht ist der einzige Ausweg, wie man als Nation im Krieg überleben kann. Wie sagte Brecht: „Jedes Land hat eine Armee. Wenn nicht die eigene, dann eine fremde…“

Daher brauchen wir die Wehrpflicht. Aber bitte zeitgemäß, fair, zukunftsfähig aufgestellt und ganzheitlich betrachtet.

Bild: Sascha Rauschenberger, Bundesministerium für Verteidigung

Sascha Rauschenberger, geboren 1966 in Wattenscheid, ging nach dem Abitur zur Bundeswehr, wo er als Panzeraufklärer und Nachrichtenoffizier Dienst tat. Er diente, unter anderem als Reservist, in vier Auslandseinsätzen, zuletzt als Militärberater in Afghanistan.

Seit 2000 ist er als Unternehmensberater im Bereich Projektmanagement und Arbeitsorganisation (Future Work) tätig.

Rauschenberger ist zudem Autor von Science-Fiction- und historischen Romane („Die Flotte von Rom„).

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