Arbeit und Demografie in DNEWS24
„Schutzsteuern“ als Kampfansage gegen die Abwerbung von medizinischem Personal
Immer mehr italienische Pflegekräfte verabschiedeten sich in den letzten Jahren von Italien, um in ausländischen Krankenhäusern zu arbeiten. Geringe Gehälter, unzumutbare Arbeitszeiten und Schichtdienste, mangelnde Entwicklungschancen und mithin fehlende Wertschätzung sind nur einige Faktoren der Arbeitskräftemigration und -erosion. „Wer möchte schon sein ganzes Berufsleben in maroden Krankenhäusern und Altenheimen verbringen?“ so Antonio de Palma, Präsident der italienischen Krankenpflege-Gewerkschaft vor einigen Monaten gegenüber der Presse. Nunmehr greift Italien zur Selbsthilfe und besteuert die Mehreinnahmen seiner im Ausland tätigen Bürger, um so die Arbeit im Inland wieder „attraktiver“ zu machen.
Norditalienischen Regionen scheinen von dieser Abwanderungswelle gleich doppelt betroffen. Während viele bisher in Norditalien arbeitende süditalienische Pfleger aufgrund der geringeren Lebenshaltungskosten in ihre Heimatregionen zurückkehrten, zieht es andere Pflegekräfte ins Ausland, wo hohe Gehälter und weitere Extras (wie z.B. eine Wohnung im Heim- oder Klinikkomplex) winken.
Aufgrund der Nähe zur Schweiz bekommen die Regionen Lombardei und Piemont diesen Aderlass besonders stark zu spüren. Aktuellen Erhebungen zufolge sollen allein 2023 rund 400 Pflegekräfte das Piemont verlassen haben. „Meist genüge es einen Lebenslauf als Bewerbung zu schicken und schon wenige Tage später erhalte man ein Jobangebot. Nach kurzer Probezeit winke oft eine Beförderung mit Lohnerhöhung“, so eine Turinerin gegenüber der Tageszeitung „La Stampa“. So war es für Schweizer Krankenhäuser und Seniorenheime bisher einfach neues Personal in Italien zu gewinnen. Selbst nördlich gelegene Schweizer Kantone konnten so italienische Kräfte anwerben.
Die „Jagd“ ging soweit, dass in italienischen Gesundheitsmagazinen Stellenausschreibungen von Schweizer Spitälern und Pflegeheimen publiziert und mit Einstiegsgehältern von umgerechnet 300 Euro gelockt wurde. Man schätzt, dass allein in den Grenzregionen bis Mailand oder Turin rund 65.000 Pflegekräfte mit einem Durchschnittslohn von nur rund Euro 1500 deutlich unterbezahlt sind. Und das, obwohl z.B. Mailand bei Leibe keine Billigmetropole ist.
Die Arbeitssuche im Ausland ist kein schwieriges Unterfangen. Eine medizinische Fachkraft, die sich bei einer Schweizer Einrichtung bewerben möchte, müsse – gegen eine Gebühr von 500 Euro – lediglich die Anerkennung/ Prüfzertifizierung ihrer Qualifikation beim Schweizer Roten Kreuz beantragen. Sprachprobleme gibt es zwischen Italien und dem Tessin ohnehin nicht. Ähnliches gilt in abgeschwächter Form für die französischsprachigen Kanone Wallis und Waadtland sowie im deutschen Grenzbereich zu Basel.
Wie abhängig die Schweiz von ausländischem Gesundheitspersonal ist, zeigen diverse Statistiken. Laut „MedInside“ kämen fast die Hälfte des Pflege- und Klinikpersonals im Tessin aus dem Ausland; beim ärztlichen Personal seien es rund 45 Prozent. Die Rede ist insgesamt von rund 5.000 Personen.
Auslandsverdiener werden vom italienischen Staat zur Kasse gebeten
Der italienische Präsident Sergio Mattarella hatte eine Besteuerung der sog. „Frontalieri“ (Grenzgänger) bereits 2022 bei einem Besuch in Bern angesprochen. Seit Anfang diesen Jahres ist nun sowohl eine Quellensteuer in der Schweiz, als auch eine Einkommensbesteuerung des Schweizer Gehaltes in Italien zu entrichten. Bisher mussten die Grenzgänger in Italien gar keine Steuern zahlen.
Die italienische Regierung unter Regierungschefin Giorgia Meloni hat in einem ersten Haushaltsentwurf für 2024 vorgesehen, dass Grenzgänger*innen zwischen 3 und 6 Prozent ihres Nettolohns als Steuer in Italien abführen müssen, um den dortigen nationalen Gesundheitsdienst (im Grenzraum) zu finanzieren, der unter der Abwanderung von heimischen Fachkräften leidet.
Welcher Satz aus der vorgegebenen Spanne gewählt wird, bleibt den regionalen Behörden überlassen.
Einnahmen von mehr als 100 Millionen Euro erwartet
Betroffen von dieser Steuer sind jedoch ausschließlich Personen, die nach der bisherigen Regelung mit einer Quellensteuer in der Schweiz veranlagt werden. Grenzgänger, die unter das neue, am 17. Juli 2023 in Kraft getretene Grenzgänger-Abkommen zwischen der Schweiz und Italien fallen und ab 2024 auch in Italien steuerpflichtig sind, fallen nicht unter die Neuerung. Hier ein konkretes Rechen-Beispiel: Für einen Nettolohn von 4000 Franken in der Schweiz müssten bei Anwendung des Maximalsatzes von 6 Prozent pro Monat 240 Franken an die italienischen Grenzregionen abgeführt werden. Diese neuen Abgaben könnten gemäß italienischen Medien Einnahmen in Höhe von über 100 Millionen Euro generieren und auf die Gesundheitseinrichtungen umgelegt werden. Der Lohn für dortige Pflegekräfte oder Ärzte könnte somit durchschnittlich um 50 Euro pro Monat erhöht werden. Zwar sind die gesetzlichen Neuerungen weitgehend abgeschlossen, wie sich die Umlagen aber tatsächlich gestalten werden, ist m.W. noch offen.
Gewerkschaftler protestieren und Kritiker sprechen von „Diebstahl“
Der Vorschlag für die Steuermaßnahme kam von Finanz- und Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti (Lega), der aus der Nähe von Varese stammt und die Dynamik im Grenzgängerwesen bestens kennt (in allen Grenzorten morgens und abends Kilometer lange Staus!). Festzuhalten ist, daß italienische Grenzgänger, die in der Schweiz tätig sind, sich eigentlich bei einer Schweizer Krankenkasse versichern müssten, aber aufgrund einer geltenden Regelung auch im staatlichen italienischen Gesundheitssystem verbleiben können, wenn sie sich nicht freiwillig in der Schweiz versichern möchten (natürliche Personen zahlen in Italien ca. 21 Prozent ihres Einkommens als Steuer für die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems, sprich in die Kranken- und Pflegekasse ein).
Zwar zeigte das „Grenzgänger-Büro“ der Gewerkschaft OCST im ersten Moment Verständnis dafür, Grenzgänger in die Finanzierung des italienischen Gesundheitssystems einzuspannen. Inzwischen aber hat ein Bündnis von Gewerkschaften die Regierung in Rom aufgefordert, den geplanten Artikel 49 aus verschiedenen Gründen der Ungleichbehandlung und mangels Einbezug der Gewerkschaften wieder ersatzlos zu streichen. Ein Antrag, der wohl ins Leere gehen wird.
Grenzgänger profitieren von starkem Franken
Ob dieser zusätzliche Steuerabzug reichen wird, um die Attraktivität des Schweizer Gesundheitssystems für italienische Arbeitnehmer zu schmälern und für das Italienische zu erhöhen, muss sich erst zeigen. Fraglos gibt es aber ein Personalproblem. Allein in der Provinzen Como und Varese fehlen rund 400 bis 500 Pflegekräfte und Ärzte. Zwischen 2021 und 2022 wurden an der Università dell’Insubria zirka 500 Pflegekräfte ausgebildet, die dann überwiegend im Kanton Tessin auf Schweizer Seite eine Stelle fanden. Den angrenzenden italienischen Provinzen fehlen also nicht nur geeignete Arbeitskräfte, sondern sie bilden auch solche aus, die dann umgehend ins Nachbarland „flüchten“.
Aber selbst wenn sich die Löhne der Grenzgänger (in CHF) in der Gesundheitsbranche zahlenmäßig den Einheimischen (in Euro) nähern, sind die Einkommen in der Schweiz allein aufgrund des starken Frankens begünstigt. Vor zehn Jahren musste man für einen Euro noch 1,23 Franken bezahlen, inzwischen nur noch 95 Rappen.
Einigung im Steuerstreit mit Italien, aber Skepsis hinsichtlich der künftigen Versorgung in der Schweiz
Der Tessiner Nationalrat Alex Farinelli sieht die Neuregelung natürlich kritisch und befürchtet eine Versorgungslücke. SP-Nationalrätin Sarah Wyss nimmt die Schweiz aber auch in die Pflicht, künftig selbst mehr Fachpersonal auszubilden und die Arbeitsbedingungen weiter zu verbessern. Das klingt nach Gegenwehr mittels wiederum erhöhter Löhne in der Schweiz und letztlich einem „personellen Wettrüsten“, das sich die Schweiz leisten kann.
Offensichtlich will die Schweiz kein Steuerparadies mehr sein. Ob die Stellen im Schweizer Gesundheitswesen dadurch wirklich weniger verlockend werden, bleibt abzuwarten bzw. dürfte im Einzelfall auf die Verdienstdifferenz nach Abzug der Zusatzsteuern ankommen.
In welcher Situation befindet sich Deutschland?
Sind eventuell ähnliche Bestrebungen denkbar, um unser unterfinanziertes Gesundheitssystem in ähnlicher Form zu „heilen“?
Was die Zu- und Abwanderung von medizinischem Fachpersonal betrifft, scheint Deutschland in einer Zwitterstellung. Einerseits profitiert man in der Pflege schon lange von ausländischen Kräften, d.h. ohne osteuropäische – insbesondere polnische – Pflegekräfte ginge in einigen Regionen Deutschlands fast nichts mehr. Andererseits leidet auch Deutschland unter der Drainage von Ärzten und Pharmafachleuten an die Schweiz.
Man denke nur an die großen, lukrativ zahlenden Pharmaunternehmen, die im Raum Basel ansässig sind. Von den täglichen rund 110.000 Grenzgängern zwischen der Schweiz und den Anrainerstaaten Italien, Frankreich und Deutschland (Österreich und Liechtenstein spielen dabei keine Rolle) pendelt immerhin das Gros von fast 80.000 Arbeitskräften über die deutschen Grenzen (von Italien ca. 20.000 und Frankreich ca. 10.000). D.h. 80.000 Deutsche zahlen ihre Einkommenssteuern in die Schweizer Kassen, nicht in das deutsche Steuersystem. Was für ein Verlust. Rechnet man beispielsweise (nur) mit einem Jahresbruttoeinkommen von EURO 80.000 multipliziert mit 80.000 Arbeitnehmern und nimmt einen Steuersatz von 30% an, wären das rund 2,1 Milliarden EURO pro Jahr die der Schweiz zufließen und in deutschen Kassen fehlen. Dazu sollte man wissen, dass das durchschnittliche Monatsbruttoeinkommen in der Schweiz ca. 6.500 Franken (= 6800 Euro) beträgt und der Spitzensteuersatz niedriger ist.
Auch in anderen deutschen Grenzregionen pendeln immer mehr deutsche Arbeitskräfte des besseren Lohnniveaus und einer entspannteren Arbeitsatmosphäre wegen in die Niederlande, nach Österreich oder Dänemark. Ja, sogar Luxemburg macht uns gerade im Gesundheitssektor den Rang streitet. Wer einmal ein Seniorenheim in Luxemburg besucht hat weiß, dass dort die Personalschlüssel wesentlich höher liegen und die Heimbewohner mithin besser versorgt sind.
Ach ja, auch das Einzahlen ist das Schweizer Rentensystem ist jetzt noch attraktiver, denn vor kurzem wurde per Volksabstimmung die Zahlung einer 13. Monatsrente beschlossen.
Petra Fritz
Die Autorin ist von Beruf Dipl-Kfm (Uni Mannheim), Jahrgang 1960, verheiratet, wohnhaft in Speyer am Rhein. Sie war 4 Jahre Personalleiterin bei den US- Streitkräften (AAFES) in Stuttgart und Heidelberg, in Folge 12 Jahre tätig im Pharma-Management von BASF (Auslandsvertrieb), davon 18 Monate bei der Tochtergesellschaft Quimica Knoll in Mexico.
Die Autorin ist von Beruf Dipl-Kfm (Uni Mannheim), Jahrgang 1960, verheiratet, wohnhaft in Speyer und Locarno. Sie war 4 Jahre Personalleiterin bei den US-Streitkräften (AAFES) in Stuttgart und Heidelberg und in Folge 12 Jahre im Pharma-Management von BASF (Auslandsvertrieb) tätig, davon 18 Monate bei der Tochtergesellschaft Quimica Knoll in Mexico.
Von 2002 bis 2022 war Petra Fritz selbständige rechtliche Berufsbetreuerin (Vormund) und Verfahrenspflegerin für verschiedene Amtsgerichte in der Vorderpfalz. Seitdem widmet sie sich verstärkt ihrer Coaching- und Autorentätigkeit.
Privat war Petra Fritz Leistungssportlerin im Eis- und Rollkunstlauf (u.a. Teilnehmerin bei der Profi-WM 1978 und Top 10 1979), später 14 Jahre lang Vize-Präsidentin des Rheinland-pfälzischen Eis- und Rollsportverbandes sowie Repräsentantin „Frau im Sport“. Heute ist sie in der Freizeit gerne auf dem Wasser und auf Ski unterwegs. Ansonsten agiert sie seit 2012 auch als semi-professional Bestager-Model, Darstellerin, Moderatorin und Bloggerin für „Topagemodel.de“.
Petra Fritz hat das Buch „Mittendrin statt nur dabei“ veröffentlicht.
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