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Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben? Die Stolperstein-Diskussionen in der Schweiz. Von Petra Fritz

Die Schweiz und der Holocaust, ein Streit um Schuld und Sühne, Nazi-Raubgold, anonyme (nachrichtenlose) Vermögen und abgewiesene Flüchtlinge. Die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sorgt immer wieder für Geschichtskontroversen. Wie steht es um den bisherigen Versuch der eidgenössischen Vergangenheitsbewältigung?

Anläßlich einer historischen Konferenz zum Holocaust-Gedenktag in Brissago/ Tessin am 27.01.2024 kam in Verbindung mit den neuesten Erkenntnissen bzgl. der tatsächlichen Flüchtlingszahlen u.a. die Frage auf, warum in der Schweiz und gerade im Tessin selbst nach 80 Jahren die Erinnerungskultur der „Stolpersteine“ (pietre di inciampo) bisher nur wenig bis gar nicht präsent ist. Darüber ist nunmehr eine emotionale Debatte entbrannt, vor deren Hintergrund es sich die „Gruppo per la Memoria a Brissago“ zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges in der Region anhand von Berichten, Zeugnissen und Bildmaterial noch umfassender aufzuarbeiten.

Fluchtort Brissago 1943/ 1944

In vielerlei Punkten ist die Erinnerungskultur in der Schweiz sehr selektiv. Sieht sich die Schweiz doch als Insel, die Dank Ihrer Neutralität von den Geschehnissen (weitgehend) verschont blieb. Für die Jüngeren ist das Thema – trotz der aktuellen europäischen Flüchtlingsströme – weit weg und die ältere Generation neigt – wie überall – häufig zur Verdrängung. Jedoch hatten gerade im Tessiner Grenzgebiet zu Italien viele Einheimische und Behörden seinerzeit verstärkt mit Krieg, Flucht, Verfolgung und Widerstand in unterschiedlichster Form zu tun.

In diesem Rahmen referierten Jakob Tanner, Prof. em. für Schweizer Geschichte (Universitäten Zürich und Luzern), Marino Vigano (Geschichtsforscher mit Lehrstuhl für politische Wissenschaften an der katholischen Universität Mailand und Militärgeschichte in Padua) und Adriano Bazzocco (Historiker, Kurator und Projektleiter beim Bundeszollamt in Lugano) zu verschiedenen Themen.

Der Veranstaltungsort war perfekt gewählt, da man aus dem Fenster teils direkten Blick über den See zu eben jenem Grenzübergang Dirinella hatte, wo einer der genauer beleuchteten Abschiebefälle der Familie Grünberger ihren tragischem Ausgang nahm.

Gerade, wenn man die Örtlichkeiten in den Bergen und Tälern der Grenzregionen am Luganer See rund um Gandria, Caprino und Ponte Tresa sowie am Lago Maggiore selbst kennt, kann man sich in die Situation gut hineinversetzen. Besonders das Cannobino- und Onsernone-Tal mit dem Übergang bei den sog. Bagni di Cravezza“ (nahe Spruga, gefühlt am Ende der Welt und nur zu Fuß zu erreichen) in Verbindung mit der angrenzenden sog. Partisanenrepublik Ossola (Region um das heutige Domodossola), aber auch die heute gängigen Grenzübergänge Dirinella (Richtung Luino), Camedo und Valmara (Richtung Cannobio) an den Ufern des Lago Maggiore waren Brennpunkte der Zurückweisung und Abschiebung (in der Schweiz Ausschaffung genannt).

So beginnt Tanner seinen Vortrag mit der Schilderung verzweifelter Szenen wie Niederwerfungen und Tränenorgien vor den Grenzern. Meist wandten sich dann ganze Familien bewußt ab, wenn nur die Mutter oder die Kinder aufgenommen werden sollten. Zur Vergegenwärtigung der Situation liest er u.a. aus der Korrespondenz des damals 30-jährigen Oberleutnants Nef (ein Rorschacher Kaufmann) mit seiner Frau vor, der an der Grenze in Mendrisio stationiert und im September 1943 in Verantwortung war:

„Meine liebste Frau, gestern wurde ich Gott sei Dank abgelöst. Bin jetzt Reserve. In der vergangenen Woche erlebte ich das Traurigste, was mir je im Leben begegnete. Erst seien endlos viele italienische Flüchtlinge in Zivil wieder über die Grenze geschoben worden. Noch furchtbarer war jedoch die Bestimmung, auch die Juden zurückzuweisen. Diese waren meistens deutschen Judenlagern entsprungen und nach unseligen Leiden irgendwo im Dickicht an unserer Grenze durch ein Loch im Drahtgehege geschlüpft oder wurden aufgegriffen und sanken hier vor Müdigkei t um. Ich erhielt Befehl, Kinder unter sechs Jahren und deren Mütter hereinzulassen und die andern zurückzujagen (…) Befehl: Mit Waffengewalt zurück!“ -Es sind Schilderungen wie diese, die auch 80 Jahre danach sprachlos machen.

Wieso war die Schweizer Politik gegenüber Schutzsuchenden während des Zweiten Weltkriegs als neutrales Land so restriktiv? Hatte man Angst, deshalb in das Kriegsgeschehen hineingezogen und ebenfalls besetzt zu werden? Wieso wurden die Grenzen im August 1942 dicht gemacht, auch wenn dem Bundesrat bewusst war, dass betroffenen Ausländern daraus ernsthafte Nachteile bzw. Gefahren für Leib und Leben drohten? Wieso bestimmte die berüchtigte Weisung der eidgenössischen Polizeiabteilung „Flüchtlinge nur aus Rassegründen“ – Juden, galten zunächst nicht als politische Flüchtlinge – lange die Praxis, obwohl die Behörden seit 1941 von Massenmorden der Nationalsozialisten wußten?

Kontroverse Debatten

Die Flüchtlingspolitik von damals ist heute eines der am besten erforschten Themen der jüngeren Schweizer Geschichte. Schon kurz nach dem Krieg ließ der Bundesrat dieses Kapitel vom Rechtsprofessor Carl Ludwig untersuchen, nachdem die Schweizer Beteiligung an der Einführung des „J-Stempels“ in den Medien kritisiert worden war. Der sogenannte Ludwig-Bericht erschien 1957. Zehn Jahre später sorgten das Buch und der Film „Das Boot ist voll“ des Publizisten Alfred A. Häsler für Furore. Und als die sog. Bergier-Kommission Ende der neunziger Jahre die wirtschaftlichen Verstrickungen des Landes mit Hitlers „Drittem Reich“ aufarbeitete, erschien auch ein Band über die Flüchtlingspolitik. In der Öffentlichkeit wurde heftig darüber debattiert, daß die Eidgenossenschaft damals sehr offen für Geld und Gold war, nicht aber (immer) für Menschen.

Laut dem Schlussbericht der besagten Bergier-Kommission hat die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs rund 20.000 Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen oder aus dem Land geschafft; mehr als die Hälfte von ihnen im Tessin und im Misox. Diese Zahl bezieht sich auf zivile Flüchtlinge im Allgemeinen, nicht spezifisch auf Jüdinnen und Juden. Trotz schwieriger Quellenlage heißt es dazu im Bericht: „Sicher ist, dass es sich bei den bis im Frühling 1944 abgewiesenen Flüchtlingen zu einem großen Teil um Juden handelte.“

Dieser Behauptung widerspricht der Historiker Adriano Bazzocco inzwischen aufgrund neu entdeckter bzw. zuvor wohl nicht gründlich recherchierten Angaben für den „Zollkreis IV“, der das Tessin und Misox umfaßt. In einem Aufsatz (der von der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz publiziert wurde) und auch anläßlich der Konferenz belegt er dies mittels diversen Graphiken und Statistiken.

Dass diese regionalen Resultate so relevant für das Gesamtbild sind, hängt mit der speziellen Situation im Süden zusammen. Bis zum Sommer 1943 war die Lage an der Grenze zu Italien stabil und ruhig (lediglich ein paar Lebensmittelschmuggler gingen ihrem riskanten, für sie aber lebensnotwendigen Tagewerk nach) und nur wenige Fälle von illegalen Einwanderern sind belegt.

Das änderte sich schlagartig, als Italien im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten aushandelte und in der Folge von der Wehrmacht besetzt wurde. Es begannen Deportationen. Aber es kam auch zu massenhaften Desertionen von italienischen Armeeangehörigen, die nicht an der Seite der Deutschen weiterkämpfen wollten und sich abzusetzen versuchten, oft als Zivilisten. Bis zum März 1944 wurden im Tessin rund 10.000 Personen zurückgeschickt, also rund die Hälfte aller für die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs geschätzten abgewiesenen Zivilflüchtlinge.

Mehrheitlich italienische Deserteure?

Der Historiker Bazzocco weist durchaus plausibel nach, dass der Anteil der Juden unter diesen Flüchtlingen deutlich niedriger – eher unter 20% – war, als bisher angenommen. Die Mehrheit der Zurückgewiesenen seien höchstwahrscheinlich ehemalige Soldaten der aufgelösten italienischen Armee gewesen. So verzeichnet z.B. das Register „Ricapitolazione giornaliera profughi“ des zentralen Sektors Mendrisio alle angenommenen und abgewiesenen Flüchtlinge, kategorisiert nach „Kriegsgefangene, Militär, Zivile, Juden“. Von September 1943 bis zum Kriegsende im Mai 1945 wurden dort 3.131 Juden aufgenommen und 468 zurückgewiesen. Aus den Kategorien Militär und Zivil waren es 4.383 Abgewiesene. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim „Registro di orientamento“ der Grenzwächter des Sektors Locarno ab. Dort sind für den gleichen Zeitraum 447 aufgenommene und 118 zurückgewiesene Juden dokumentiert; sowie 3.386 abgelehnte Personen aus den Kategorien Militär und Zivil. Diese Stichprobe ist laut A. Bazzocco deshalb repräsentativ, als sie 83 Prozent der Gesamtzahl der im Tessin und Misox aufgenommenen Juden entspricht.

Bazzocco rechnet die Ablehnungsquote der Sektoren Mendrisio und Locarno (14,1 Prozent) schließlich für die gesamte Grenze zu Italien hoch, was einer Zurückweisung von 995 Jüdinnen und Juden entspricht. Das heißt, daß zumindest an der Südgrenze nicht der größte Teil aller Abweisungen erfolgte, wie es im Bergier-Schlussbericht steht. Vor einigen Jahren ließ bereits die Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann mit ähnlichen neuen statistischen Erhebungen zur Westschweizer Grenze (nahe Frankreich) zu den Flüchtlingszahlen und ihrer Interpretation aufhorchen. Spontan würde ich meinen, daß es die meisten Abweisungen und Rückführungen zum deutschen Grenzgebiet hin gab, was allerdings nicht Gegenstand der Konferenz war.

Doch haben solche quantitativen Neubewertungen überhaupt Relevanz?

Macht es das Verhalten der Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs „besser“, wenn weniger Juden als gedacht an der Grenze abgewiesen wurden? War es sogar eine „Leistung“, dass rund 20.000 der insgesamt über 50.000 hierzulande aufgenommenen Zivilflüchtlinge Jüdinnen und Juden waren? Oder müsste nicht auch berücksichtigt werden, dass die Schweiz ca. 16.000 Visumsgesuche ablehnte, die Juden im Ausland gestellt hatten, und das die Grenzschließung im Zeitraum 1942/1943 ohnehin schon viele Menschen abschreckte? Man ist sich darüber einig, daß die Argumentation einer statistischen Aufrechnung darüber wenig sinnvoll, ja sogar zynisch wäre. Und so betont auch Adriano Bazzocco, wie wichtig die Studie der Bergier-Kommission bleibt, insbesondere was die Rolle des Antisemitismus betrifft. Die seinerzeit verantwortlichen Beamten und der Bundesrat sahen in der Zuflucht der jüdischen Verfolgten primär die Gefahr der „Überfremdung“ deren Bekämpfung die Ausländerpolitik schon seit Jahrzehnten bestimmt hatte. Juden galten als „wesensfremd“ und „nicht assimilierbar“.

Gregor Spuhler, der Leiter des ETH-Archivs für Zeitgeschichte, hat es vor Jahren schon auf den Punkt gebracht: „In moralischer Hinsicht bleibt das Problem der Nichtanerkennung der Judenverfolgung als Asylgrund und ihrer Rückweisung im Wissen um ihre akute Bedrohung an Leib und Leben dasselbe – unabhängig davon, ob es um einige tausend oder um 20.000 zurückgewiesene Juden ging.“ Dieser Umstand führte dazu, daß sich 1995, ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, Bundespräsident Kaspar Villiger im Namen der Landesregierung mit den Worten entschuldigte: „Im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist“.

Berichte von Zufall, Glück, Hilfsbereitschaft und wechselnder Flüchtlingspolitik

An der Grenze zwischen Italien und der Schweiz suchten viele Menschen Schutz vor Verfolgung und Tod. Einige Flüchtlinge, die sich bis zu einem Grenzposten retten konnten, hatten das Glück, in die Schweiz einreisen und dort in Sicherheit weiterleben zu dürfen. Andere hingegen traf ein hartes Schicksal. Sie wurden vom Schweizer Zoll abgewiesen und damit vielfach in ein Konzentrationslager der Nazis geschickt. Auch Ornella Ottolenghi stand Ende September 1943 an der Grenze zur Schweiz. Seit die Wehrmacht Italien vor einigen Wochen besetzt hatte, wurden Jüdinnen und Juden mit großem Eifer gejagt. Die Familie Ottolenghi lebte in Mailand und konnte dank der Warnung eines befreundeten Polizisten rechtzeitig in ein Bergdorf fliehen. Als die Deutschen auch dorthin kamen, blieb den Ottolenghis nur noch die Flucht in die Schweiz. Bei Lanzo d’Intelvi retteten sie sich auf sicheres Territorium. Vermeintlich, denn die Schweizer Zöllner, bei denen sie sich in Caprino (am Luganer See) stellten, schickten die Familie zurück nach Italien. Mit Hilfe von italienischen Antifaschisten und einigen eingeweihten Tessinern gelang der Familie der Grenzübertritt schließlich beim zweiten Mal. Ende Oktober 1943 stellten sie sich in Lugano der Polizei und durften bleiben.

Unter den vor dem Nationalsozialismus Flüchtenden befand sich 1943 auch eine Modeikone ihrer Zeit: die Gräfin Wally Castelbarco, Tochter des weltberühmten Dirigenten Arturo Toscanini. Toscanini war ein hartnäckiger Gegner des Faschismus. Er lebte damals in den Vereinigten Staaten im Exil. Die Gräfin erreichte mit ihrer kleinen Tochter Emanuela aus Italien kommend am 11. November 1943 den Grenzposten Caprino bei Cantine di Gandria. Der Schweizer Zoll ließ sie passieren und rettete auf diese Weise ihr Leben.

In anderen Fällen verlief die Geschichte von Widerstand und Flucht nicht so glimpflich, wie zum Beispiel im „Fall Gruenberger“, dem die Flucht in die Freiheit erst beim zweiten Versuch und nach langen Strapazen gelang, nicht aber der ganzen Familie.

Besonders in Italien wird die Situation immer verworrener. Nach dem Putsch vom 25. Juli 1943 wird Benito Mussolini aus der Regierung gedrängt und ins Gefängnis gesteckt. Mit der Zustimmung von König Vittorio Emanuele beschließt die Militärregierung von General Pietro Badoglio, das Bündnis mit Nazi-Deutschland zu verlassen und Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit den Alliierten aufzunehmen. Das Chaos bricht ab dem 8. September 1943 aus, als der Waffenstillstand erklärt wird. In ganz Norditalien kommt es zu einer Massenflucht, bei der allein im Tessin mindestens 20.000 Flüchtlinge ankommen, hauptsächlich italienische Soldaten und ehemalige alliierte Gefangene (darunter Griechen, Briten, Amerikaner etc.). Viele von denjenigen, die nicht in die Schweiz fliehen können, vor allem italienische Militärangehörige, werden mit dem Zug durch Österreich ins Deutsche Reich deportiert. Im Laufe der Tage wird Norditalien von deutschen Truppen militärisch besetzt, die auch Jagd auf jüdische Personen machen. Einer von ihnen ist der 1920 geborene Egone Gruenberger, ein junger jüdischer Mann, der zu dieser Zeit mit seiner schwangeren Frau in Fiume (damals Italien, heute Rijeka in Kroatien) lebt.

Die Situation für die jüdische Gemeinde ist im Herbst 1943 sehr schwierig. Mussolini kehrt nach seiner „Befreiung“ nach Italien zurück und setzt eine Marionettenregierung – bekannt als Repubblica di Salò – ein, die größtenteils aus Hardliner-Faschisten besteht. In seiner Verzweiflung, begibt sich Egone mit seiner Familie, d.h. seiner Frau Edith, der Mutter Adele, der Tante Regina und seinem Bruder Erico auf eine gefährliche Reise über Mailand und Cannobio, um in der Schweiz Zuflucht zu suchen. Am 17. Dezember 1943 versucht die Familie Gruenberger, nach Zahlung von 55.000 Lire (damals eine beträchtliche Summe) für den heimlichen Übertritt, die Grenze bei Brissago zu überqueren. Jedoch scheitert das Unternehmen und sie werden von Schweizer Grenzsoldaten oberhalb von Brissago am Berghang von Cortaccio abgefangen. Da die beiden älteren Frauen die Strapazen einer erneuten Bergwanderung zurück nicht mehr schaffen würden, wird die Familie Gruenberger von Brissago aus mit dem Boot nach Dirinella, auf der anderen Seite des Lago Maggiore, verbracht und dort an die Grenze geführt. Nur Egones Frau Edith, die im fünften Monat schwanger ist, darf in der Schweiz bleiben.

Die aufgenommenen Flüchtlinge verbrachten die Zeit meist in Internierungslagern: Frauen im vorübergehend geschlossenen Grand Hotel Brissago, Männer im Lager von Gordola, Soldaten in Losone (nahe Ascona) oder sonst wo in der Schweiz. Im Buch von Paolo Storelli über die Kriegszeit in Brissago wird deutlich gezeigt, daß breite Teile der Bevölkerung Brissagos die Flüchtlinge unterstützten. So verhinderten z. B. die Tabakarbeiterinnen der heutigen Fabrik von Dannemann mit einem Streik und Straßenblockaden die Rückführung von dutzenden Frauen und Kindern aus Cannobio, welche vor der Repression der SS-Truppen nach Brissago geflohen waren.

Nach einem kurzen Fußweg wird die Familie von deutschen Zollgrenzschutzsoldaten am Bahnhof von Pino (kurz hinter der Grenze) gefangen genommen. Egone und seine Rest-Familie werden zunächst in Varese inhaftiert; nach einigen Wochen wird Egone in das berüchtigte San-VittoreGefängnis im Zentrum von Mailand verlegt, wo Schläge und Folter an der Tagesordnung sind. Hier gibt es einen ersten Fluchtversuch mit anderen jüdischen Kameraden, der aber scheitert. U.a. schreibt er dazu: „Die Deutschen haben Norditalien erst seit ein paar Monaten besetzt, und doch läuft die gut geölte Verfolgungsmaschinerie bereits auf Hochtouren“.

Ende Januar 1944 wird die Familie schließlich per Bahn nach Auschwitz-Birkenau im besetzten Polen verladen. Der Zug fährt vom berüchtigten Binario21 im Mailänder Stazione Centrale ab. Heute ist dieser Gleisanschluß am Ende des Mailänder Bahnhofes ein Museum zum Gedenken an die Shoah, das ich 2023 besucht habe. Der Konvoi mit 600 Gefangenen bestand hauptsächlich aus jüdischen Familien, die an der Tessiner Grenze bis Januar 1944 abgewiesen oder gefangen genommen wurden.

Egones Bericht ist einzigartig und präzise, denn man kennt die genaue Zeit der Abreise aus Mailand und auch die Nummer, die ihm für den Transport zugeteilt wurde. Demnach befanden sich in jedem Güterwaggon 56 Juden. Der Zug wird von einer Kompanie der SS-Polizei eskortiert, derselben Einheit, die ein paar Monate später in der Region Ossola Jagd auf Partisanen machen und die besagte Partisanenrepublik Ossola niederschlagen wird. In der Nähe von Verona gelingt es Egone mit zwei anderen Männern aus dem fahrenden Zug zu springen und in umliegende Wälder unweit von Verona zu fliehen. Nachdem er in einer Kirche Zuflucht gefunden hat, wird er von einer einheimischen Familie aufgenommen und versorgt. Einige Wochen später macht sich Egone auf den Weg zurück nach Mailand und sucht Unterschlupf bei einem Netzwerk von Widerstandskämpfern, die ihm eine falsche Identität geben. Mit Hilfe des neuen Ausweises kann er am 19. Februar 1944 bei Masera (oberhalb von Domodossola) schließlich auch über die Grenze in die Schweiz zu seiner Frau gelangen. Es folgen verschiedene Verhöre und Protokolle. Wie schnell sich die Zeiten ändern, zeigt die Tatsache, dass er dieses Mal, obwohl er sich als Jude offen ausweist, von den Schweizer Behörden im Onsernone-Tal ohne Probleme aufgenommen wird (seit Nov 1943 Einzelfallprüfung durch Protokolle belegt). Die Zurückweisungen von Juden an der Südgrenze zu Italien endeten im Dezembers 1943, später wurden grundsätzlich alle Juden aufgenommen.

1945 zieht die Familie nach Mailand zurück, wo Egone 1998 stirbt. Andere hatten dieses Glück nicht. Der Konvoi, auf dem der Rest seiner Familie blieb, kam bereits am 7. Februar 1944 in Auschwitz-Birkenau an. Von den besagten 600 Jüdinnen und Juden, die aus Mailand mit diesen Transport deportiert wurden, überlebten nur knapp vier Prozent. Eine der 22 Überlebenden ist die heute weit über 90-Jährige italienische Senatorin Liliana Segre. Sie war damals 13 Jahre alt und zusammen mit ihrem Vater und zwei älteren Onkeln Anfang Dezember 1943 in Arzo bei Mendrisio von einer Freiburger/ Fribourg Infanterie-Einheit zurückgewiesen worden.

In der Region zwischen Ascona und Verbania gibt es heute den „Precorso della Speranza“, den Weg der Hoffnung, auf dem man die Ereignisse dieser Zeit nachspüren kann. Der ausrichtende Verein Insubrica Historica bietet u.a. ein Trekking entlang des Weges an, den Flüchtlinge, Partisanen und Deserteure seinerzeit nahmen, um in die Schweiz zu gelangen.

Fazit

Im zweiten Weltkrieg wurden wohl deutlich weniger Juden an der Schweizer Südgrenze zurückgewiesen, als bisher vermutet. Die Recherchen des Historikers Adriano Bazzocco korrigieren also die Zahlen der Bergier-Kommission. Das ändert aber nichts daran, dass die damalige zögerliche Flüchtlingspolitik der Schweiz zunächst weitgehend antisemitisch und kein Ruhmesblatt der Schweizer Geschichte darstellt. Oder wie Jakob Tanner es in der Diskussion um verschleppte Wahrnehmung und bedingten Handlungswillen abwertend formulierte: „Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben“.
Ob sich nun die klassischen Stolpersteine zum Gedenken und als Erinnerungskultur allen diesen Fällen eignen oder alternative Erinnerungsmomente passender wären, sei dahin gestellt. Aus meiner Sicht scheint es verständlich, daß die Schweizer bis heute teils „großzügiger“ mit der Aufarbeitung der Flüchtlingsproblematik des zweiten Weltkrieges – seien es Juden, Asylanten, Kriegsdienstverweigerer oder Deserteuren gewesen – umgehen, waren sie ja nicht die unmittelbaren Aggressoren oder Verantwortlichen des Disasters; zumal die Betroffenen seinerzeit keine Schweizer Staatsbürger waren, wie es in Deutschland, Italien oder Teilen von Frankreich der Fall war.

Die Konferenz war von Insubrica Historica jedenfalls hervorragend organisiert, so daß man auch während eines leichten Mittagsessens und einem abschließenden Aperitivo mit Gästen und Referenten in Deutsch oder Italienisch diskutieren konnte.

Wer die ehrenamtliche Arbeit der Organisation „Memoria 1943/ 44“ unterstützen möchte, kann dies durch eine Spende bei der BancaStato bzw. unter dem IBAN: CH4900764220671892001 tun.

Petra Fritz

Die Autorin ist von Beruf Dipl-Kfm (Uni Mannheim), Jahrgang 1960, verheiratet, wohnhaft in Speyer am Rhein. Sie war 4 Jahre Personalleiterin bei den US- Streitkräften (AAFES) in Stuttgart und Heidelberg, in Folge 12 Jahre tätig im Pharma-Management von BASF (Auslandsvertrieb), davon 18 Monate bei der Tochtergesellschaft Quimica Knoll in Mexico.

Die Autorin ist von Beruf Dipl-Kfm (Uni Mannheim), Jahrgang 1960, verheiratet, wohnhaft in Speyer und Locarno. Sie war 4 Jahre Personalleiterin bei den US-Streitkräften (AAFES) in Stuttgart und Heidelberg und in Folge 12 Jahre im Pharma-Management von BASF (Auslandsvertrieb) tätig, davon 18 Monate bei der Tochtergesellschaft Quimica Knoll in Mexico.

Von 2002 bis 2022 war Petra Fritz selbständige rechtliche Berufsbetreuerin (Vormund) und Verfahrenspflegerin für verschiedene Amtsgerichte in der Vorderpfalz. Seitdem widmet sie sich verstärkt ihrer Coaching- und Autorentätigkeit.

Privat war Petra Fritz Leistungssportlerin im Eis- und Rollkunstlauf (u.a. Teilnehmerin bei der Profi-WM 1978 und Top 10 1979), später 14 Jahre lang Vize-Präsidentin des Rheinland-pfälzischen Eis- und Rollsportverbandes sowie Repräsentantin „Frau im Sport“. Heute ist sie in der Freizeit gerne auf dem Wasser und auf Ski unterwegs. Ansonsten agiert sie seit 2012 auch als semi-professional Bestager-Model, Darstellerin, Moderatorin und Bloggerin für „Topagemodel.de“.

Petra Fritz hat das Buch „Mittendrin statt nur dabei“ veröffentlicht.

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